Sonntag, 10. Juli 2011

Eine kurze Geschichte des Sozialismus

Von Stefan Sasse

Ferdinand Lassalle
Der Sozialismus ist eine der politisch-ideologischen Hauptströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Er hatte Strahlkraft und Ausdehnung in ganz Europa und führte zur Entwicklung von sozialdemokratischen Parteien und Reformern. Aus ihm ging eine weitere politisch-ideologische Hauptströmung, der Kommunismus, hervor. Dieser wird ausdrücklich nicht in diesem Artikel, sondern in einem Kommenden besprochen.

Herkunft des Sozialismus

Der Sozialismus entwickelt sich von Anfang an zu einem europazentrischen Phänomen, im Gegensatz zum Liberalismus, der sich parallel in den USA entwickelte. Deswegen gibt es in den USA auch keinen Sozialismus. Es gibt eine europaweite Theoriebildung und gleichermaßen eine nationsspezifisch ausgeformte Interpretation der Erhebung der Arbeiter, quasi nationale Theorien sozialistischen Verständnisses. Die europaweite Theoriebildung ist dabei die Grundlage der Sozialistischen Internationale, wird jedoch gleichzeitig immer von unten her durch die jeweilige nationalstaatliche Bewegung zerfressen. Deswegen ist der deutsche Sozialismus kaum mit dem französischen vergleichbar, weswegen hier nur auf den deutschen Sozialismus Wert gelegt werden soll. Selbst der vergleichsweise ähnliche englische Sozialismus ist aufgrund mannigfaltiger Unterschiede wie der anders verlaufenen industriellen Revolution nicht wirklich vergleichbar, soll aber immer wieder kurz angeschnitten werden.

Der Terminus „Sozialismus“ gehört zu einer bestimmten Ideologie politischer Begriffe, der „Bewegungsbegriffe“. Diese sind auf die Zukunft ausgerichtet, seine Entwürfe weisen in die Zukunft und sind nicht zwingend auf eine historische Realität bezogen; wenn, dann auf das hic et nunc, das verändert werden müsse. Es bestehen dabei durchaus Parallelen zum Liberalismus, so beispielsweise das Gleichheitspostulat. Eine wichtige Frage im Sozialismus ist, wer Herrschaft ausübt, mittels welcher Institutionen sich Herrschaft konkretisiert. Herrschaft im Rahmen eines nationalen Staates mit dessen Machtmitteln ist eine Variante von Herrschaft; Diktatur des Proletariats ist eine dezidiert überstaatliche Herrschaftsform, die letztlich laut Marx zum Absterben des Staates als solchem führt. Es gibt drei Fragen im Sozialismus: Gleichheit, Herrschaft in der Gesellschaft und Rolle des Staates für die Erringung von Herrschaft. Letztere dient der Frage, wie eine sozialistische Gruppe die Macht erhält und wie sie nach dem Erhalt der Macht mit diesen Institutionen umgeht. An dieser Frage zerbrechen die marxistischen Gruppen, so sind die „sozialen Demokraten“ auf Reform, die Kommunisten eher auf Revolution aus. Sozialismus meint sowohl Revolution als auch, und das ist das Besondere daran, einen wissenschaftlichen Anspruch die Lebensverhältnisse der Zukunft zu entwerfen und mittels soziologischer Analyse die gegenwärtigen Mängel zu analysieren und daraus die Zukunft abzuleiten. Eminente Bedeutung hat dabei die ständige Theoriebildung, die wenn sie fehlt auf einer Krise beruhen – wie die UdSSR in den 1950er Jahren. Deswegen schreiben viele Sozialdemokraten auch Bücher.

Das 19. Jahrhundert - Frühsozialismus

Freiheitsbaum mit Jakobinermütze
In Frankreich taucht der europäische Frühsozialismus erstmals auf; die Ideen traten zwar bereits in England auf, systematisiert werden sie jedoch erstmals mit der französischen Revolution 1789 mit dem Gleichheitspostulat der Jakobiner. Damit setzt ein Denken ein, das den späteren Sozialismus teilweise voraus nimmt; die Jakobiner sind jedoch in diesem Sinne keine Frühsozialisten. Die Selbstkennzeichnung „sozialistisch“ existiert noch nicht. Dieses Denken in radikaler Form entstammt der Aufklärung, dass die Selbstbezeichnung fehlt ist ein Indikator, dass die Bewegung sich noch nicht über sich selbst klar ist. Die Frühsozialisten grenzen sich später von den Jakobinern ab.
Der Sozialismus wurde zum positiven Gegenbegriff zum Individualismus in Abgrenzung zum Katholizismus und Protestantismus. Die Kirchen hielten immer Abstand zum Liberalismus, der krass individualistisch und kirchenfeindlich ist. Annäherungen an sozialistische oder sozialdemokratische Gruppen und Strömungen finden dagegen immer wieder statt, auf Basis der Gruppenbildung, obwohl der Sozialismus ab 1850 mit der marxistischen Strömung religionsfeindlich wird (was sich später wieder etwas umkehrt).
Ende der 1830er Jahre wurde in Frankreich bereits von den „Proletariern“ gesprochen, die unterhalb des Handwerks und Bauerntums vegetierende Schichten sind, frühe Formen der Arbeiter, zumeist aber Tagelöhner. In England setzte die Industrialisierung schneller ein, so dass dort zur gleichen Zeit bereits ein „echtes“ Proletariat bestand. Bereits 1811 gibt es die ersten Maschinenstürmer. In Deutschland gibt es vergleichbare Entwicklungen (schlesische Weber) erst in den 1850er Jahren. Der Sozialismus dient dabei nicht der Emanzipation des Individuums, sondern der Verbesserung der Lebensunterschiede einer Klasse. Robert Owen kann dabei als ein Vorgänger des Sozialismus gelten, so beispielsweise bei der Aufhebung des Besitzbegriffs. „Individuum“ wird im Sozialismus vollständig eliminiert. Deshalb enthalten heutige Verfassungen auch explizit die Garantie des Eigentums. Owen leitet aus dem Nicht-Existieren von „Eigentum“ auch beispielsweise die Unrechtmäßigkeit der Ehe ab, da der Mann nicht die Frau besitzen kann, wenn es kein Eigentum gibt.
Marx und Engels leben seit den späten 1840er Jahren in England; für sie ist der Owensche Frühsozialismus wertlos, da er Utopien anbietet, die keine Ideen für die Überwindung der herrschenden Klasse anbietet.
In Deutschland spricht man seit den 1840er Jahren von Sozialismus; die Sozialismusdiskussion in Deutschland vollzieht sich dabei vor der Folie Westeuropas durch. Ab 1842 setzt sich jedoch eine eigene wissenschaftliche Diskussion durch, als Lorenz von Stein ein Buch über Kommunismus und Sozialismus in Frankreich schreibt:

1) Sozialismus wolle die Gegenwart des gesellschaftlichen Lebens nach seiner Grundlage gestalten. Sozialismus ist also nie utopisch, sondern muss aus der Gegenwart der Zeit gewonnen sein. In den 1840er Jahren stand dies also im Kontext zur Konstitutionalisierung des Proletariats als Klasse. Ihr Wohl haben Communismus und Socialismus im Auge.

2) Socialismus ist eine volkstümliche Erscheinung, die aus dem Volk heraus aus dem jeweiligen nationalen Kontext heraus begriffen werden muss.

3) Socialismus ist eine Wissenschaft, eine Wissenschaft der Gesellschaft. Es geht nicht nur um die Verbesserung des Loses der Arbeiter, sondern „das wirkliche Ganze solle zu einem Ganzen in der Anschauung erhoben“ werden. Gesellschaftliche Gegebenheiten sollen also analysierbar werden.

4) Die Wertbestimmung des Socialismus wird vom Communismus abgegrenzt. Socialismus ist dabei positiv, Communismus negativ, da einmal die Gesellschaft umgestaltet, das andere mal jedoch umgestürzt werden soll. Der Socialismus „hoffe auf die Umsetzung durch Wahrheit und Wort“, der Communismus durch den „Umsturz der Masse“.

Diese Gedanken wurden vor 1848 gefasst.

1848 – die Anfänge des Sozialismus

Proletarier im Walzwerk
Die Revolution war ein Phänomen europäischen Zuschnitts und sparte nur England und Russland aus. Sie hat jedoch in den europäischen Ländern unterschiedliche Zuspitzungen und Zielsetzungen. Die Märzforderungen waren dabei fast ausschließlich liberale Forderungen. Mit der Forderung des Volksheers kommt jedoch bereits ein kleiner sozialistischer Schimmer durch. Diese Forderungen wurden um Freiheit und Individuum gruppiert. Der Sozialismus dagegen fordert eine Klassenentmachtung und eine Umordnung der Gesellschaft. Die Besitzverhältnisse sollen verändert werden, der „vierte Stand“ soll herrschen. Diese Forderungen finden sich in Frankreich deutlich stärker als in Deutschland, wo der Liberalismus deutlich wichtiger ist. Dabei ist die Politik eine Angelegenheit des Bürgertums, in der Paulskirche sitzt kein einziger Arbeiter.
In Deutschland gibt es mehrere Strömungen des Sozialismus. Die erste ist der Versuch, den Sozialismus mit einer christlichen Strömung zu versehen. Der christliche Sozialismus in beiden Konfessionen hebt sich strikt vom französischen Socialismus ab; der Kampf gegen die herrschende Klasse wird abgelehnt, Harmonie angestrebt. Wichern entwirft dabei die Strategie der „Inneren Mission“, er war ein Gegner des politischen und revolutionären Sozialismus’. Er sah den Sozialismus im christlichen Umfeld, da er ein Versagen der Kirche sah – die protestantischen Kirchen seien Veranstaltungen der Oberschicht für sich selbst, weswegen sich die Unterschichten ablösen. Dadurch werden sie empfänglich für andere Ideen, und dagegen muss man angehen – eben mit dem christlichen Sozialismus. Die zweite Strömung verbindet Sozialismus und Demokratie. Sozialismus wurde hier ebenfalls umgedeutet und einem andersartigen politischen Programm beigeordnet. Diese Leute adaptierten den Sozialismus als Reformmöglichkeit, linke Ideen in die bürgerliche Welt zu transportieren. Soziales Engagement ging in die Ideenwelt der Linksliberalen ein, die in dieser Zeit ihre Formierungsphase erlebten. Ab 1850 bestanden zwischen Sozialdemokraten und Linksliberalen Koalitionsmöglichkeiten; mit den Nationalliberalen nie. Die dritte Strömung repräsentieren nun Marx und Engels. Marx lehnte die Bezeichnung „Sozialdemokratie“ und das damit verbundene Selbstverständnis ab. Er sieht in ihr nichts als die Ideologie der „republikanischen Kleinbürger“. Dieser Gegensatz bildete bis weit ins 20. Jahrhundert die Antipathie von Praxis in der Sozialdemokratie und Theorie und Praxis des Kommunismus, der die revolutionäre Umsetzung von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft durch die Beseitigung der Klassenherrschaft der Bürgerlichen und Errichtung der Diktatur des Proletariats, das Privateigentum soll abgeschafft werden, wodurch sich in Folge das Absterben der staatlichen Herrschaft ereignen würde. Für Marx ist der Staat nur dazu da, dem Bürgertum das Kumulieren von Kapital zu erlauben. Der Sozialismus ist dabei eine internationale Veranstaltung („Proletarier aller Länder, vereinigt euch“, sozialistische Internationale), die Sozialistische Internationale soll die Speerspitze der Diktatur des Proletariats werden. Die Ansätze des Frühsozialismus wurden von Marx und Engels deutlich verschärft. Dabei sieht die Marxsche Revolution keinen Mord an der herrschenden Klasse, sondern ihre Umgestaltung vor.

Entstehung der Sozialdemokratie

Protagonisten der Arbeiterbewegung
1848 war in Frankreich und England deutlich „arbeiterlastig“ als in Deutschland. Trotzdem prägten die sozialistischen/kommunistischen Einflüsse der Nachbarländer auch den Deutschen Bund. Der Liberalismus hing noch bis über die 1850er Jahre hinaus dem Ideal der klassenlosen Bürgergesellschaft an, unfähig, die Veränderungen durch die Industrialisierung zur Kenntnis zu nehmen. Die „Formierung des Proletariats als Klasse“ (Marx) wird daher vom Bürgertum kaum gesehen. Trotzdem ängstigste sich das Bürgertum davor. Marx stellt das Bürgertum als zu beseitigende Klasse dar, es besteht also eine inhärente Vernichtungsdrohung. Aus dieser resultiert gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Angst im Bürgertum, die sich schließlich im Faschismus ins Extrem steigert.
1869 wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei SDAP gegründet. Diese verbindet zwei Strömungen: die erste wird von August Bebel und Wilhelm Liebknecht repräsentiert. Liebknecht stammt aus einer Familie von Theologen und Universitätslehrern; ergo eine bürgerliche Herkunft. Er war radikaler Denker und kämpfte bis zuletzt für die Revolution. Nach deren Ende war er Journalist und wirbt als linker Agitator in den entstehenden Arbeitervereinen. Er hat einen antipreußischen Habitus und steht für Großdeutschland. Der preußische Staat soll als Repräsentant der repressiven Monarchie beseitigt werden. Diese Positionen vertritt er vor dem Bundestag, in dem auch Bismarck sitzt – die geradezu traditionelle Feindschaft gründet auch auf dieser Erfahrung. Liebknecht will ein Zusammengehen der Arbeiter; er hängt Marx’ und Engels Vision an, dass die Diktatur des Proletariats erst kommen könne, wenn die Bourgeoisie die Feudalgesellschaft besiegt habe. Die Arbeitervereinigungen sollten vereinigt werden, damit ein politisches Bewusstsein sich bei den Arbeitern herausbilden konnte.
In der Zeit, in der das liberale Bürgertum sich in Preußen auf Bismarcks Seite und damit die der gewalttätigen Reichseinigung stellte, wurden Liebknecht und Bebel auf den Weg einer separaten Arbeiterpolitik getrieben, was vorher noch nicht der Fall gewesen war. Dahinter steht natürlich auch die zunehmende Erfahrung mit der Industrialisierung. Ebenfalls in diese Zeit fällt die Gründung der I. Internationale. Diese versteht sich als klassenbewusste Vereinigung des Proletariats in Europa. Während die Nationalstaaten immer stärker ihre Interessen verfolgen, die Industrie ausgeweitet wird und der Imperialismus seine größte Ausdehnung erreicht stellt die Internationale einen klaren Gegenpol dazu dar. Dieser Internationale wenden sich Bebel und Liebknecht zu. Durch den Bruch mit dem Bürgertum entsteht die Situation, dass die Arbeiter in Deutschland überhaupt in die Lage kommen eine Partei zu gründen.
Bebel ist im Gegensatz zu Liebknecht ein Kind einer proletarisierten Familie; der Vater war Unteroffizier, dessen Vater Bauer. Mit der Industrie kam er erst nach seiner Jugend in Berührung; er hatte seine Wurzeln im Handwerk und hatte eine traditionelle Drechslerlehre hinter sich. In seiner Wanderzeit machte Bebel die Erfahrung der Armut, war jedoch kein Proletarier im späteren Sinne. Sein Glaube war im Egalité verankert und forderte die Gleichheit der Handwerkerarbeiterschaft, des Sektors, der langsam in die industrielle Fertigung abglitt durch die feudalen Klassen. Bebel wandelte sich so zum Vertreter der Proletarier; er hatte jedoch nie Revolution im Sinn, sondern schuf eine Parteiorganisation. Bebels Strömung ist antipreußisch, großdeutsch und auf Emanzipation ausgerichtet, ehe 1864 der Bruch mit dem Bürgertum kommt.
Ferdinand Lassalle ist der Sohn eines jüdischen Kaufmanns und studiert Philosophie und Nationalökonomie. Er erkannte 1862 die Menschenfeindlichkeit des Kapitalismus’; 1863 entsteht der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ADAV in Leipzig, der als erste Arbeiterpartei gelten könnte. Lassalle wird mit quasi diktatorischen Vollmachten zum Vorsitzenden gewählt; er ist im Gegensatz zu Liebknecht und Bebel kein Demokrat. Diese sind der Meinung, es sei für das Proletariat notwendig, sich des Staates zu bedienen, in freien Wahlen die Macht zu erobern. Lassalle denkt gegen die bestehende Herrschaft des Adels. Mit Marx hat Lassalle wenig im Sinn; im schwebt die Eroberung des Staates vor. Seine Feindschaft gegenüber dem Bürgertum und der Affinität zum Staat machen Lassalle für Bismarck interessant. Zu dieser Zeit war das Proletariat keine Gefahr für die Militärmonarchie. Lassalle schwebte ein Bündnis zwischen Links und Rechts vor, um gegen das Bürgertum und den Liberalismus vorzugehen. Dieses Bündnis findet sich später in Lenins Revolution wieder, ebenso in der Weimarer Republik. Die Arbeiterklasse sollte organisierte politische Landschaft werden, und Anhänger Lassalles schmiedeten die Partei später zusammen. Sie war auch kleindeutsch geprägt. Die Fixiertheit auf den starken Staat verhinderte später auch Revolutionen durch oder mit Hilfe der SPD.

Eisenach und die SPD

Reichstagsfraktion der SPD 1889
1869 wurde in Eisenach die SDAP gegründet und erklärte das Ziel der Abschaffung jeder Klassenherrschaft; die Fixierung auf den Staat war jedoch auch in der SDAP lebendig, so dass es stets zu Konflikten zwischen Marxisten und Anti-Marxisten kam, die bis heute bestehen. Daraus resultiert auch der schroffe Gegensatz zwischen Rhetorik und Handeln bei der SPD.
Bei den Reichstagswahlen 1871 erhielten SDAP und ADAV 3%, 1893 erreichte die seit 1891 vereinigte SPD 21%, 1903 31,7% und 1912 34,8%.
Die Wählerzahlen stiegen also von 124.000 1873 auf 4.200.000 1912. Man erkennt also die Ausbreitung einer Schicht wie deren Bewusstseinsbildung. In dieser Zeit wandelte sich Deutschland vom Agrarstaat zum hoch industrialisierten Staat, in dem das Agrarische zwar politisch noch dominierte, wirtschaftlich aber vergleichsweise unbedeutend war. Der Index der Lebenshaltungskosten stieg ab 1871 stark an, die Löhne nicht. Es kam zunehmend zu Streiks und Ansätzen einer Gewerkschaftsbewegung in Verzahnung mit den Parteien; das Ziel der Parteien war jedoch das allgemeine Wahlrecht, nicht die Verbesserung der Lebensumstände der Arbeiter, da das allgemeine Wahlrecht als Vorbedingung für die Machterlangung gesehen wurde.  Gleichzeitig kam es zur Ausprägung eines in sich geschlossenen sozialdemokratischen Milieus (als Gegensatz zur Monarchie, besonders durch die Sozialistengesetze) und Bildung der Parteiorganisation („Bebelfaktor“). Das Milieu wurde durch Kinder von Facharbeitern gebildet und wurden mit der Partei konfrontiert, die das Leben von der Wiege bis zur Bahre organisierte; bildete also das gesamte Lebensumfeld für ihr Milieu. So werden Feiern ausgerichtet, Bibliotheken aufgebaut, Fahnenweihen abgehalten, Theaterstücke aufgeführt, Konzerte und Tanzabende veranstaltet, Ausflüge durchgeführt, Turn- und Tanzvereine gegründet, Unterstützungskassen eingerichtet. Ein Großteil dieser Milieubildungsmaßnahmen wurde später von Faschismus und Kommunismus übernommen. Ebenfalls zum Milieu gehört ein mindestens latenter Atheismus, der zur Abgrenzung zum sozialen katholischen Milieu führt – genauso wie zum protestantisch dominierten Bürgertum.
Die Sozialistengesetze verbieten sozialistische Vereine, die der Identitätsbildung und Geborgenheitsgefühlerschaffung dienen, Zeitungen und Druckschriften, sozialdemokratische Führerfiguren werden ausgewiesen. Gleichzeitig führt Bismarck die schmalen deutschen Sozialversicherungen ein. Die Arbeiterschaft sollte politisch entmündigt werden. Die Herausbildung eines sozialistischen Milieus sollte gehemmt werden. Zwischen 1880 und 1890 bildete sich das sozialdemokratische Milieu jedoch erst heraus, trotz – oder gerade wegen – der Sozialistengesetze. So entsteht auch eine deutlich radikalere, Marxorientierte Generation, die tatsächlich aus dem Arbeitermilieu stammt und die Welt vor der Industrialisierung nicht mehr kennt.
Wilhelm II. hebt die Sozialistengesetze 1890 in der Hoffnung auf, die Sozialdemokraten für den Staat einnehmen zu können, was jedoch illusorisch ist. Es ergeben sich zwar Gesprächsmöglichkeiten, jedoch keine Veränderung des politischen Systems. Der wichtigste liberale Aspekt des sozialdemokratischen Programms ist die soziale Mobilität innerhalb der Gesellschaft.

Erfurter Programm

Im Erfurter Programm gibt es zwei Linien: die des Karl Kautzky, der stark marxistisch orientiert ist und ein Programm aus diesem herausdestilliert und es umsetzen will, und die des Eduard Bernstein, der eher praktisch-reformistisch veranlagt ist: Wahlrecht für alle, Plebiszit, Neueinteilung der Wahlkreise, Wahlen der Beamten und Behörden durch das Volk, Volksmiliz, Gleichberechtigung der Frau, Säkularisierung, Entkonfessionalisierung der Schulen, Wahl der Richter, internationale Schiedsgerichtsbarkeit bei nationalen Konflikten, 8-Stunden-Tag, Verbot der Kinder- und Nachtarbeit, Einrichtung von Arbeitsämtern, Koalitionsfreiheit, etc. Der Ansatz Kautzkys bleibt dabei in der SPD bis 1958 erhalten.
Das Erfurter Programm fixiert geradezu die inneren Widersprüche der Sozialdemokratie durch Kautzkys Forderung der Änderung der Eigentumsverhältnisse auf der einen und Bernsteins reformistischen Ansatz auf der anderen Seite. Der Verbleib Kautzkys Forderungen im SPD-Programm erklärt die bis 1958 bestehende Furcht der Besitzenden vor der SPD.

Eduard Bernstein

Eduard Bernstein 1895
Er löste den ersten Reformismusstreit der Sozialdemokratie aus, da er bezweifelte, dass Marx’ Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus Recht habe. Der historische Verlauf beweise das. Ende des 19. Jahrhunderts wurde bereits Kritik an Marx gedruckt; Bernsteins Werk man 1901 auf den Markt. Es enthielt die Aussage, dass der Untergang des Kapitalismus’ nicht gesetzmäßig festgelegt sei, sondern stattdessen dieser vital überlebe. Deswegen müsse die Sozialdemokratie reformistisch in den Grenzen des bestehenden Systems operieren. Eine gegensätzliche Figur zu Bernstein ist Rosa Luxemburg, die einen revolutionären Ansatz verfolgt. Das Mittel der Revolutionären zur Durchführung der Revolution war der Streik der Arbeiter, der gleichzeitig deren Fortbildung diente. Dabei wurde jedoch die tatsächliche Bereitschaft der Arbeiter zu Revolution und Streik überschätzt; diesen behagte die reformistische Linie weitaus mehr.

Die Welt der Sozialdemokratie

Die Unterdrückung der Sozialdemokratie prägte eine Parallelgesellschaft heraus, die noch am ehesten ein Klassenbewusstsein darstellte und bis in die 1960er Jahre erhalten blieb. Es basierte weniger auf Marx’scher Ideologie als Bismarckscher Repression. Diese Welt umfing die Arbeiter und ihre Familien „von der Wiege bis zur Bahre“. Die Ähnlichkeit der Lebensverhältnisse ermöglichte eine gleichartige politische und kulturelle Prägung. Sie umfasste schließlich 15 der 70 Millionen Einwohner des Reichs. Wenn diese negative Integration in der Phase der Hochindustrialisierung 1890-1914 in eine positive hätte verwandelt worden wäre, so ist es wahrscheinlich, dass der Ausgang des Weltkriegs und der Aufstieg des Nationalsozialismus wahrscheinlich Deutschland erspart geblieben. Aus diesen Punkten resultiert auch die schizophrene Rolle der Sozialdemokratie der Weimarer Republik. In der Nachfolge der Sozialistengesetze Bismarcks wurden die Proletarier zur gesellschaftlichen Randgruppe, zur Paria des Reichs. Diese Pariasituation zog zahlreiche Intellektuelle an, die sich selbst als soziale Paria fühlten, beispielsweise jüdische Intellektuelle. Dies fußt auch darauf, dass in einer Hochzeit des Nationalismus eine internationalistisch angelegte Organisation keinen Ort hat und haben kann. Auch die Juden hatten Probleme, sich in diese Struktur einzuordnen. Diese allenfalls begrenzte Akzeptanz führt dazu, dass innerhalb des europäischen Sozialismus bis hinein nach Russland eine hohe Anzahl jüdischer Intellektueller in der Sozialdemokratie tätig sind. Dieser Faktor sorgte für das „harmonische“ Nebeneinander von Antibolschewismus und Antisemitismus bei den Nationalsozialisten.

Massenstreikdebatte 1904-1906

Bei der Massenstreikidee handelt es sich um ein europäisches Phänomen. Es geht um eine Machtfrage, den Kampf zwischen der Partei (Sozialdemokratisch/Sozialistisch) und den Gewerkschaften. Die Frage lautet also: wer hat mehr Einfluss auf die Proletarier? Nun wurde diskutiert, ob ein Generalstreik den Interessen der Arbeiter dienen könnte oder nicht. Für die Theoretiker bedeutete ein Massenstreik den Beginn einer Bewegung mit Zielrichtung auf die Revolution. Die Gemäßigten betrachteten Massenstreiks als probates Mittel, die Ziele der Arbeiter (Materielles, Mitbestimmung, …). Die Gewerkschaften hatten also das Ziel einer Mitbestimmung in den Betrieben. Für sie ist der Massenstreik also eine unnütze Ressourcenverschwendung, die vom Ziel des Aufbaus gewerkschaftlicher Strukturen in den Betrieben abhält. 1905 und 1906 entbrennt auf den Parteitagen der Streit, zu welchem Zweck der Massenstreik diene. Dabei versucht die SPD, die Gewerkschaften unter die Partei zu ordnen und dem theoretischen Ziel der Revolution höchste Priorität einzuräumen. 1906 erkämpfen sich die Gewerkschaften ein Vetorecht und stellen damit Parität her. Die Gewerkschaften bekennen sich in der Folgezeit als Teil der sozialistischen Bewegung und nehmen so dezidiert politisch Stellung; benötigen aber die Partei für die Programmatik und die Schaffung des Klassenbewusstseins, während sie die konkrete Umsetzung der Forderungen der SPD übernehmen – höhere Löhne, Mitbestimmung. Es zeigt sich also, dass zehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg der Machtkampf mit der eindeutigen Dominanz der reformistischen Bestrebungen vor den revolutionären endet. Auf diesem Boden fußt später der Burgfriede mit der Obrigkeit.

Spaltung der Sozialdemokratie

Rosa Luxemburg
Die Unterstützung der SPD für die Kriegspolitik der Obrigkeit (Kriegskredite) sorgt für eine Spaltung der SPD, die sich 1917 konstituiert: MSPD und USPD werden gegründet. Aus der USPD geht später (1919/20) die KPD hervor. Die MSPD ist dabei reformistisch und auf Parlamentarismus angelegt. In dieser existiert eine linke Bewegung, die potenziell revolutionäre Politik befürwortet und eine Rätedemokratie (Rätebewegungen gehen aus der Arbeiterbewegung hervor und dominieren die politische Meinungsbildung ungeachtet der wahren Mehrheitsverhältnisse. Deswegen hat sie gegenüber den nicht vertretenden Klassen – besonders der Bourgeoisie – einen drohenden Gestus) befürwortet. 1922 vereinigt sich ein Teil der USPD wieder mit der MSPD, der Rest mit der KPD. Aus dieser Spaltung resultiert auch die Feindschaft der Sozialdemokratie gegenüber dem Antikommunisten, die noch heute in der Ablehnung der LiPa durch die SPD fortwirkt.

Weimar

Nach der Spaltung zeigt sich während der Revolution, dass die MSPD bedingungslos reformistisch ist: alle Anlagen für eine Revolution waren vorhanden. Reformisten wie Ebert sahen jedoch, dass dafür schlichtweg die Anhänger fehlten, vor allem für die Führungspositionen. Dies zeigt sich auch in der Konstituierung der parlamentarischen Demokratie, da Verwaltungs- und Militärfachleute komplett fehlen. Die darauf resultierende Konsequenz ist die Zusammenarbeit mit den alten Eliten. 1919 bis 1920 ist Weimar sozialdemokratisch; doch dann befand man sich bis 1928 in der Opposition, so dass der auf dem Gleichheitsprinzip fußende Rechtsstaat Utopie bleiben muss, ebenso wie viele soziale Reformen (Bildung für die Arbeiter, …).
Da die Bürgerlichen zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie nicht unterscheiden, kooperieren sie nicht mit der SPD und erlauben so der NSDAP und KPD später das Untergraben der Republik. Da die bürgerlichen Parteien außerdem alle nach rechts driften und sich die SPD dem nicht anschließen will, bleibt praktisch keine Koalitionsmöglichkeit. Da die SPD stark rechtsstaatlich geprägt ist, hat sie kaum eine Chance gegen die stark aggressiven revanchistischen Kräfte wie die Freikorps, aus denen später die NSDAP hervorgeht. Außerdem geht der SPD in den 1920er Jahren die Jugend verloren, wo sich die völkisch angelegten Gruppen als Avantgarde präsentieren, die sich daraufhin an den extremen Rändern gruppiert. Die SPD wird so wie die liberalen Parteien marginalisiert.

1933-1949

Rede Hitlers zum Ermächtigungsgesetz 1933
Die SPD ist bei der Machtergreifung die einzige Partei, die gegen das Ermächtigungsgesetz stimmt (die KPD war bereits vollständig eliminiert). Dieses läuft auf eine Selbstentmannung des Parlaments hinaus. Der SPD-Abgeordnete Wels hält in dieser Sitzung ein Plädoyer für die Untrennbarkeit von Sozialdemokratie und parlamentarische Demokratie.
Für die Sozialdemokraten und Gewerkschafter stellt sich nun das Problem, im Reich zu bleiben oder zu emigrieren. Vorrangig gehen die jüdischen Sozialdemokraten in die Emigration. Bald folgen Gewerkschaftler und die linken und sozialistischen Splittergruppen der SPD. Die SPD als ganzes war jedoch zu sehr in ihrem Milieu verhaftet und verwurzelt, um sich von diesem einfach trennen zu können. Sie sind darauf nicht vorbereitet, genauso wenig auf die Organisation von Widerstand, so dass das Reich den Nationalsozialisten faktisch kampflos in die Hände fällt. Die Sozialdemokraten versuchen stattdessen so lange wie möglich, sich der Repression und Angleichung des Regimes zu entziehen. Gleichzeitig versuchen die Nationalsozialisten, die Arbeiterschaft durch eine NS-Arbeiterbewegung einzubeziehen, was zum Großteil auch gelingt. Die Emigranten sind also, sofern nicht linke Splittergruppen oder Juden, Führungspersonen, die guten Grund haben um ihr Leben zu fürchten. Der mit dem Milieu stark verhaftete Teil kann nicht fliehen und teilt dieses Problem mit der Bevölkerung, die sich anpasst.  
Das erste Ziel der Emigranten ist Prag, bevor die Tschechoslowakei im März 1939 vernichtet wird. Von dort aus werden neue Parteiorgane herausgegeben. Die neuen Ziele sind Großbritannien, Skandinavien (Norwegen und Schweden, nach 1940 Schweden) und die USA. Im Exil stellt sich die Frage nach dem Verhältnis mit den Kommunisten neu. Die Befürworter einer Annäherung an die Kommunisten können sich jedoch nach 1945 nicht durchsetzen. Die Emigranten kehren nach dem Krieg zurück und bringen die Erfahrungen aus ihren Gastländern mit: Wohlfahrtsstaat (Skandinavien), Parlamentarismus (England), Massengesellschaft (USA). Besonders die englischen und amerikanischen Emigranten beginnen in den 1950er Jahren über ein neues Programm nachzudenken. Aus England kam beispielsweise Erich Ollenhauer zurück, Frank Möringen, Fritz Heine, Wilhelm Eichler.

Kurt Schumacher

Kurt Schumacher, während der gesamten 12 Jahre im KZ eingekerkert, trimmt die SPD aufgrund seiner Erfahrungen sowohl der Novemberrevolution wie der Machtergreifung auf Antikommunismus. Auch den Vorwurf der Vaterlandsverräter will er abwerfen, was den Anfang vom Ende der Sozialdemokratie als Klientelpartei der Arbeiter bedeutet.  Schumacher ist somit ein national orientierter Sozialdemokrat, trotz seiner dominierenden Stellung im Nachkriegsdeutschland nicht typisch für die SPD, besonders, da er die Remigranten unterschätzt, die die Bedeutung eines guten Verhältnisses zu den USA richtig einschätzen.

Die Remigranten

Willy Brandt 1980
Die Remigranten brauchen die gesamten 1950er Jahre, um sich Gehöhr zu verschaffen. Dies liegt an der von Schumacher bei der Gründung festgelegten Linie der SPD: lassalleanistisch, antibürgerlich, staatlich. Gegen die Taktiererei des Adenauerlagers jedoch verliert Schumacher 1949, was die Mehrheitsverhältnisse für die SPD bis 1966 negativ festschreibt. Die Festlegung der SPD auf die Planwirtschaft durch Schumacher ist ebenfalls vollkommen veraltet und wird durch die Misswirtschaft der DDR diskreditiert. Einigkeit mit Adenauer hat Schumacher auf dem Feld des Rechtsstaats und Parlamentarismus. Ein weiteres Problem war der alte Vorwurf mit dem Versailler Vertrag, den Schumacher durch nationales Vorgehen gegen die Besatzungsmächte wettzumachen versuchte – was in die Hose ging. Ab 1952 – Ollenhauer übernahm den Parteivorsitz – stärkte sich der Einfluss der Remigranten in Partei und Gewerkschaft: Willy Brandt in der SPD, Rosenberg im DGB. Diese bringen amerikanische Strukturen mit, so beispielsweise die beharrlichen Verhandlungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern („Konsenskapitalismus“).
Die Remigranten übernehmen die Dominanz in Politologie und Sozialwissenschaften an der neu gegründeten FU Berlin und werden bald die zentralen sozialdemokratischen Figuren einer neuen Programmatik. Daraus ergibt sich im Verlauf der 1950er Jahre die Theorie, dass die Sozialdemokratie nur dann Macht und Stimmen erlangen kann, wenn sie sich auf den Boden der Westbindung und des Kapitalismus stellt. Daraus resultiert dann 1958 das Godesberger Programm, mit dem die Sozialdemokratie endgültig im Westen ankommen. 

Bildnachweise: 
Lassalle - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)
Jakobinermütze - Goethe (gemeinfrei)
Walzwerk - Erdmann von Menzel (gemeinfrei)
Protagonisten - Machahan (gemeinfrei)
Reichstagsfraktion - Julius Braatz (gemeinfrei)
Rosa Luxemburg - unbekannt (gemeinfrei)
Rede Hitlers - unbekannt (CC-BY-SA 3.0)


Dieser Text basiert auf der zweiteiligen Vorlesung "Politisch-ideologische Hauptströmungen des 20. Jahrhunderts" von Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel.

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